raue kocht raue, 3/3

vom hauptgang bis zum dessert sind statt 14 nur 13 tage vergangen. diese steigerung, die eine jämmerliche ist, hat damit zu tun, dass ich in dieser woche am montag eine geschichte in wien fertiggestellt habe, am montag abend ein schlafzimmer in oberösterreich ausgeräumt, am dienstag ein wohnzimmer, ein büro und eine küche, danach durch graupelschauer und schneesturm zu josef hochmair nach wallern gefahren bin (falsch: vom web- und sängermeister gefahren wurde), danach im verdi in linz viel gaudi bei einem geburtstagsfest hatte, am mittwoch ein weiteres büro, einen dachboden und ein magazin und damit die letzten flecken eines hauses (nämlich das meiner vor zwei jahren verstorbenen grossmutter) mit 600 quadratmeter nutzfläche von den letzten dingen befreite, am donnerstag meinem augenarzt einen letzten kontrollbesuch abstattete, bevor er in pension geht (ich war immerhin 33 jahre seine patientin!), einen gebrauchten kopierer erstand und am abend zurück in wien die letzten reste von omas hausrat verstaute, am freitag (also heute) eine besprechung für ein buchprojekt hatte und jetzt fix und foxi das berliner dessert reichen will, bevor am wochenende unter anderem der artikel über josef hochmair für das kommende rondo zu schreiben ist. noch fragen?

nach dem schweinekinn (das hier goderl heisst) sind unsere erwartungen an die desserts im ma tim raue hoch. davor kommt aber das hier:

matimraue portulakeis

portulakeis in rosa-pfeffer-schokolade mit fenchelpollen. jajaja! ich kann rosa pfeffer nicht leiden und die schokischicht ist mir zu dick, aber ich muss zugeben, dass der rosa pfeffer, die weisse schokolade und das frische, offenbar ungesüsste portulakeis gemeinsam mit dem intensiven fenchelaroma obenauf wirklich gut zusammenpassen. und – sind wir uns einig? – die farbkombination ist fast unschlagbar. das eis alleine wäre geschmacklich vermutlich zu heftig oder zumindest zu einseitig gewesen, aber dank der knackigen und kurz darauf schmelzenden hülle mit leichter süsse hat tim raue da eine charmante liaison eingefädelt. mein süss-gusto wäre damit gestillt. der rosa pfeffer, der ja bekanntlich nicht zur familie gehört, wird als „mädchenpfeffer“ bezeichnet. ein mädchen bin ich auch, aber ordentlicher schwarzer pfeffer ist mir wesentlich lieber. jetzt kommen erst die eigentlichen desserts:

matimraue gianduja

giandujaschokolade, mango & ylang-ylang: das gehört dem web- und sängermeister. gut, leider viel zu wenig ylang-ylang zu schmecken (den duft verwende ich seit vielen jahren als ätherisches öl). wenig süss, aber für mich auch wenig aufregend.

matimraue mandarine

schaut recht ordentlich aus, nennt sich mandarine, kaki & grüner tee und ist der letzte gang meines menüs aromen revolution. mandarinenparfait mit grünteemarshmallows und grünteekaramell. sehr dezent alles, nach den wilden aromen in den gängen davor gefällt mir zwar die richtung (nicht süss, nicht schwer), aber mir sind beide desserts viel zu brav.

danach bringt tim raue diesen teller:

matimraue schokolade

…und erklärt, dass es sich dabei um schokolade mit speziellen haselnüssen (die ich vergessen habe), um schokolade mit chili und um ein minz-etwas handelt (war’s ein marshmallow? web- und sängermeister, erinnere dich ans finale!). süsses habe ich genug gehabt, danke. das ist bestimmt ganz tolle schokolade (tim raue sagt, dass er sie selbst sehr gerne esse, als ich ihm daraufhin meinen teller anbiete, lehnt er dankend ab), aber ich habe mir hier als abschiedsgruss aus der küche offenbar ganz was anderes erwartet. aber was? irgendwas heftig aromatisches, leichtes, etwas, das „zusammenräumt“ (vielleicht wie die indischen kaugewürze?) oder erfrischt (die minze hätte in die richtige richtung geführt)?

darüber gross nachzudenken bleibt keine zeit, denn der meisterkoch nimmt sich einige minuten zeit, um mit uns zu reden. natürlich muss ich ihn nach yin & yang fragen. und bekomme darauf zwei antworten, mit denen ich nicht gerechnet hätte: 1. kam die inspiration dazu unter anderem aus österreich, von einem vorarlberger senf. mir ist sofort klar, dass er den schwarzen lustenauer mit kohle meint. dann kommt’s aber: die idee fürs trüffelragout stammt vom noma, jenem kopenhagener restaurant, in dem ich auf meinem rückweg von grönland vor einem jahr keinen platz bekommen hatte, obwohl ich un-be-dingt hin wollte. es hat mich ein wenig getröstet, dass selbst tim raue einige monate auf einen tisch dort warten musste. als wir über unsere lieblingsgerichte sprechen, nennt der web- und sängermeister die wintermelonensuppe, worauf tim raue sofort zustimmt und die geschichte dazu erzählt: in hongkong gäbe es ein lokal namens „tim’s kitchen“ (!) und dort hätte er eine suppe in dieser machart gegessen – und sie würde ihn einfach an hongkong erinnern. er hatte die verträge für dort oder singapur praktisch in der tasche, als die idee für das jetztige ma tim raue an ihn und seine frau herangetragen wurde. wir kommen dann irgendwie noch auf konsistenzen zu sprechen und er erzählt, dass er knuspriges wie pekingente, schweinebauch oder currywurst besonders gerne habe. sehr schön, vor allem die ersten beiden. es geht dann noch um schwierige gäste, bodenständige küche und dass er mittags und abends die gleiche karte habe – und keine „pommeskarte“. in den sieben monaten seit der eröffnung waren sie nur an drei tagen nicht ausgebucht.

wie hat’s mir gefallen?

auffallend ist marie-anne raues freundlichkeit, herzlichkeit und wärme als gastgeberin. auch der restliche service ist bemüht und freundlich, aber es ist nun mal ein sehr edles ambiente mit sehr zahlungskräftigem publikum, das sehr eigene ansprüche an die behandlung durch den service hat. der fairness halber muss ich sagen, dass eine der kellnerinnen im laufe des abends immer mehr auftaute, sehr auskunftsfreudig und fast übermütig frech wurde, als sie merkte, dass uns steife höflichkeit gar nicht gut bekommt – und mit uns über allerlei fachliche details frei von der leber weg zu diskutieren begann. das hatte ich am anfang nicht erwartet und es hat mich positiv überrascht. ebenso das licht und die bequemen bänke. meist fange ich an einem langen abend irgendwann zu „zewerln“ an, aber hier scheint man sich wirklich viele gedanken gemacht zu haben, was die richtigen sitzunterlagen, das verhältnis sitz- und tischhöhe oder eben die intensität und art der beleuchtung betrifft.

die weinkarte bekamen wir nicht zu gesicht, wir hatten sie auch nicht verlangt. eine offenbarung war der grüntee als menübegleiter. sogar so eine offenbarung, dass ich überlege, ob man das nicht im grossen stil versuchen könnte. in japanischen oder chinesischen restaurants trinke ich immer grüntee zum essen und natürlich passt das dort auch immer. in diesem fall sind wir bei europäischer, individueller spitzenküche angelangt, da würde einem normalerweise neben wein nicht viel einfallen. was für ein irrtum und was für möglichkeiten!

die verwendeten produkte sind natürlich über jeden zweifel erhaben. allerdings: ich brauche keine trüffel und die von kind auf mit biologischer landwirtschaft und nachhaltigkeit konfrontierte konsumentin in mir fragt sich nach der sinnhaftigkeit von – ja, aromatischen, ungewöhnlichen, tollen – produkten, die eine weltreise mit dem flugzeug hinter sich haben. das muss nicht sein. ich bin sicher, tim raue könnte auch mit einem etwas kleineren lebensmittel-beschaffungs-radius seine gäste verblüffen. dass beide hauptgerichte aus dem kopf des ochsen und des schweines stammen, finde ich grossartig. ich bin eine leidenschaftliche verfechterin der idee, unbedingt das ganze tier zu verwerten, wenn es schon zu genusszwecken für mich sterben muss (zum überleben ist’s ja hierzulande nicht nötig). ich esse gerade solche schmorgerichte extrem gerne, weil sie für mich am besten diese zauberkraft des kochens symbolisieren. da hat man etwas zähes, vermeintlich wertloses, das erst durch viel zeit und geduld und das genau richtige mass an aromaten und hitze zu einer köstlichkeit wird.

ich mag auch die art, wie raue anrichtet: ohne schnickschnack, schön, aber nicht zu angestrengt, ohne jegliche deko.

ist das nun chinesisch, was raue macht? nein. raue kocht – wie schon mehrfach betont – raue. er konzentriert sich darauf, die geschmacksrichtungen sauer, scharf und bitter herauszuarbeiten, die süsse kommt aus den lebensmitteln selbst, salz verwendet er (entgegen schon irgendwo gelesener behauptungen) sehr wohl. dass er auf zutaten oder speisen, die überwiegend aus kohlenhydraten bestehen, verzichtet, weil sie seiner meinung nach verhindern, dass die aromen wie von ihm beabsichtigt wahrgenommen werden, kann als spleen abgetan werden, ist aber in jedem fall ein extrem kreativer ansatz, der keinem der gäste schaden zufügen wird. ich dachte zwar immer, es sei das frische brot, das mich bei abendessen dieser art bläht. das stimmt nicht, denn nach dem essen bei raue hatte ich noch eine weile einen bauch, als hätte ich einen fussball verschluckt (ich vermute, es war der rettich). wieder was gelernt. damit will ich nicht ablenken von raues stil und können. mir taugt das, wie er seine überzeugung umsetzt und betont, dass er alles, was er serviert, selbst gerne isst – sonst käme es nicht auf die karte. sooo wild, wie es in fast allen medienberichten betont wurde, empfand ich das essen im ma tim raue nicht. das mag damit zu tun haben, dass ich mich der chinesischen und thailändischen küche ganz besonders verbunden fühle. die schmecken für mich wie heimat, ich weiss auch nicht, warum. ich würde mir eher wünschen, noch mehr von diesen gängen wie der wintermelonensuppe, dem aal oder dem schweinegoderl zu bekommen. auf diesem niveau bekommt man diese aromen nämlich normalerweise nicht zu schmecken. und das ist für mich das spannendste an tim raues küche.

ma tim raue
behrenstrasse 72
10117 berlin
di bis sa 12.30 bis 14 und 19 bis 22 uhr
telefon +49 30 3011 1733 3
www.ma-restaurants.de

raue kocht raue, 1/3
raue kocht raue, 2/3

10 Gedanken zu „raue kocht raue, 3/3“

  1. Nur mal die Bilder angesehen, ohne den Text zu lesen: Tim Raue scheint sich aus/über dem/den Kochhorizont erhoben und zum Künstler geworden zu sein.

  2. Liebe katha!
    Es war jetzt so, als wäre ich dort gewesen. Danke, für die interessanten Nebendetails, die wir sicherlich als „normaler“ Gast nie erfahren können. Das Portulakeis hat mich auf den ersten Blick an ein Punschkrapferl erinnert. War denn die dicke Schokoschicht schon geknackt? Wenn nicht, wie hast du es geschafft, die Rolle bei der ersten Attacke nicht vom Teller hupfen zu lassen. Alle Dessert sehen wunderbar aus. Und für mich mit einem, was sag ich mehreren süßen Zähnen sieht es als Eldorado aus, obwohl du von „zu brav“ schreibst.

  3. das ist ja eine alte diskussion, sisko, ob kochen denn nun „nur“ handwerk oder „auch“ kunst ist – und ob grosse küche nicht immer auch etwas künstlerisches hat, weil dafür kreativität nötig ist, die man für das reine handwerk normalerweise nicht braucht.

    liebe ente, danke für deinen dank. das eis war ja auf einem steckerl, an dem man es halten konnte. ich habe also einmal abgebissen, und dann erst das grüne innenleben entdeckt. von aussen wäre nur die rosa schokihülle zu sehen gewesen (samt fenchelpollen obenauf). wenn ich zu hart mit den desserts ins gericht gehe (was sein mag), dann bestimmt deshalb, weil ich eben keine „süsse“ bin. andererseits: ich kann mich schon auch für desserts begeistern, ganz unabhängig davon, ob sie warm oder kalt, flüssig oder fest, knusprig oder weich, sehr oder gar nicht süss, fruchtig oder z. b. schokoladig, teigig oder erfrischend leicht sind. für mich waren die desserts im ma tim raue nicht auf demselben niveau wie die hauptgerichte und vorspeisen. sie waren zu zurückhaltend und zu wenig aromatisch für mich, und, da stehe ich dazu, zu brav.

  4. ja liebe meisterschreiberin,

    so wars, kann man nix zu sagen… (ja ich bin gerade in berlin) und ob das ein marshmallow war, weiss ich auch leider nicht mehr. ausserdem – das betone ich immer – hast ja du das kulinarsche hirn, ich eher ein musikalisches. musik gabs dort übrigens gar nicht oder zurückhaltend. sehr angenehm.

    ich will wieder hin zum tim.

  5. ich hätte mich, glaube ich, gar nicht getraut, irgendetwas zu essen, aus lauter angst die superben „arrangschemangs“ zu zerstören. bewundernswert. ist aber nicht meine welt. das ist mir zu abgehoben.

  6. Liebe Katha, vielleicht nicht mehr ganz neu, aber bei der Lektüre der April-Ausgabe des „Feinschmecker“ musste ich heftig an Sie denken. Tim Raue als Koch des Monats mit wunderbaren Rezepten und noch schöneren Fotos… Herzlichen Dank für Ihren wunderbaren Dreiteiler!

  7. freut mich, dass es ihnen/euch geschmeckt hat. mir war ehrlich gesagt ein wenig bang wegen der länge der drei teile, aber das scheint nicht gestört zu haben.

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