ein zahnarzt für 1,7 millionen

das ist nicht der letzte teil der noma-saga, der kommt schon noch.

mit den zähnen beginnt die verdauung, daher dürfen sie auch auf esskultur.at vorkommen. gestern nacht brauchte ich einen zahnarzt, weil die nachmittägliche miniwunde (mein essbesteck aus titan ist in zwei wochen endlich einsatzbereit) zu bluten begann und nicht damit aufhörte. in ganz wien gibt es genau eine praxis, die von 20 bis 1 uhr nachtdienst hat. eine praxis für ca. 1,7 millionen menschen (in krankenhäusern werden nur zähne gerissen, mit allen anderen problemen muss man zum nachtdiensthabenden zahnarzt oder bis zum nächsten morgen warten). nach zwei anrufen dort fahren wir um 23.30 uhr doch noch hin, buchstäblich quer durch die stadt.

der hauseingang stinkt so nach verrottendem müll, dass mir noch schlechter wird, als mir eh schon zuvor wegen des (gewiss wenigen) blutes war, das ich notgedrungen im lauf des abends geschluckt hatte. im lift begegnet uns ein tätowierter rocker, er riecht nach zahnarzt statt nach alkohol. im dritten stock dann gleich ums eck vom lifttürl zwei polizistinnen. die armen, müssen sich auch hier anstellen, immerhin dürfen sie das im dienst. ein hässliches wohnhaus mit dreckigem gang, hallig und niedrig. die leute stehen bis auf den gang raus. vom kleinkind bis zur noblichen gnäfrau. vom rocker (der sich offenbar nur auslüften ging) bis zum elfenhaften blonden fräulein, das ihren freund zum reissen begleitet. ich melde mich an und erfahre währenddessen, dass alle, die am gang stehen, in die enge praxis müssen, weil die nachbarn die polizei gerufen hätten. ängstliche menschen mit zahnschmerzen sind auch wirklich eine arge lärmbelästigung um kurz vor mitternacht. wir drängen uns also in der gefliesten praxis. ich bin plötzlich beschämt über meine lebenssituation, die es mir bisher erlaubt hat, in helle, freundliche, saubere, moderne, grosse zahnarztpraxen zu gehen. gleichzeitig bin ich aber fassungslos darüber, dass es sich eine so reiche stadt wie wien nicht leisten kann (will?), mehr als nur einen zahnärztlichen nachtdienst anzubieten. alleine ich zahle mehrere tausend euro sozialversicherung pro jahr und brauche wenn’s hoch herkommt ein paar hundert davon.

der bursch vor mir ist zum röntgen dran. wurzelbehandlung. er muss sich sehr zusammenreissen, um nicht vor angst zu heulen. sein kumpel ist dabei, ganz lässig mit dem ipod im ohr. immerhin begleitet er seinen freund, denke ich mir, da wären manche froh drum. ein kleiner, dunkelhäutiger mann mit schnauzer und schmutzigen kleidern geht aus der praxis. er hält ein winziges kind auf dem arm, das schläft. auch das kind ist schmutzig und hat verklebte haare. eine noch kleinere, zarte frau mit schwarzen haaren und knallgelbem t-shirt folgt ihm, als sie den mund öffnet, stecken da nur mehr ein paar zähne. sie ist vielleicht 30 jahre alt und schiebt einen kinderwagen mit einem kleinkind, schmutzig und schlafend, in den gang hinaus. hinter ihr ein bub, vielleicht sieben, acht jahre alt, mit einer schweren tasche. die hände der eltern sind schmutzig, sie sehen alle miteinander wahnsinnig arm aus. sie fragen uns leise und kaum verständlich nach dem weg zum westbahnhof. da ist es schon halb eins in der nacht. wir hätten sie hinfahren sollen, aber meine wunde hatte zu dem zeitpunkt noch immer nicht aufgehört zu bluten und mir war schlecht und ich machte mir ein wenig sorgen. lächerlich im vergleich zu denen der familie. der bub dreht auf dem gang plötzlich um, nimmt die schwere tasche wieder mit und geht zurück in die praxis, ins überfüllte wartezimmer. die mutter, mit dem rest der familie schon vorne beim lift, bemerkt nicht, dass der sohn fehlt. dann dreht sie sich um, wir deuten ihr, dass er zurück in die praxis ist. sie geht ihm nach, er kommt ihr entgegen, ohne tasche, mit leerem blick. die beiden wechseln kein wort, aber alle anderen wartenden halten die luft an, so angespannt ist die situation. mutter und sohn gehen ins wartezimmer. sie holt die tasche, er scheint mit den augen irgendwas zu flehen, aber geht ihr dann doch nach.

währenddessen läutet alle paar minuten das telefon, die assistentin betont, dass sie nur mehr wenige minuten nachtdienst hätten, zum reissen müsse man halt ins krankenhaus. röntgenbilder werden gemacht, die türen und die wartenden sind sich ständig im weg. eine frau muss sich beim röntgen übergeben (wie froh ich bin, dass ich garantiert kein röntgen brauchen werde), der arzt selbst kommt mit reinigungsmittel und papier, um den winzigen röntgenraum wieder sauber zu machen. der freund der elfe macht witze, obwohl ihm gleich ein zahn gezogen werden wird. der arzt hat ein akh-logo auf der hose, das scheint der hinweis darauf zu sein, warum er ruhig und freundlich bleibt. obwohl es mittlerweile nach 1 uhr früh ist, werden noch alle anwesenden behandelt. um 5 nach 1 bin ich dran. kurz davor bemerke ich, dass die wunde zu bluten aufgehört hat. die assistentin will, dass ich trotzdem kurz angeschaut werde. ich erzähle dem arzt, dass ich noch nie so viel blut im mund gehabt hätte, worauf er entgegnet: von „viel“ könne keine rede sein, er habe schon einen mund voll blut gesehen, da wären wir wohl weit davon entfernt. er zupft das koagulat weg und sagt währenddessen, dass er im schlimmsten fall eine naht setzen müsse. das ist dann aber doch nicht notwendig, es blutet jetzt natürlich wieder, aber er sieht, dass es wenig ist und gibt mir ein röllchen zum draufbeissen. zuhause hatte ich schon auf zusammengerollte mulltupfer gebissen, aber irgendwie hat das nicht ausgereicht, um die blutung zu stoppen. eine halbe stunde soll ich gegenbeissen und zur sicherheit bekomme ich noch so ein röllchen mit.

im lift stinkt es noch immer nach zahnarzt. im hauseingang nach müll. gute zehn minuten später sind wir zuhause, so schnell wie sonst nie. um kurz nach halb zwei darf das röllchen raus. es hat aufgehört zu bluten. der hunger, den ich seit mittag hatte, ist mir in der zwischenzeit vergangen.

11 Gedanken zu „ein zahnarzt für 1,7 millionen“

  1. habe zufällig gestern abend in der autobiographie von f.beigbeder (un roman francais) über seine nacht im polizeiarrest gelesen: stimmung und olfaktorische beschreibung sind nahezu mit deiner beobachtung ident…..
    was sagt uns das über die österreichische kranken-not-versorgung?
    hoffe, es geht dir heut besser:)

  2. 1. Unglaubliche Zustände in einem der reichsten Staaten der Welt.

    2. Warum dürfen Krankenhäuser – von Politikern immer als Spitzenmedizin für alle gelobt, bestens mit hoch qualifiziertem Personal und Technik ausgestattet, ohnehin 24/7 im Dienst – keine zahnmedizinischen Notfälle übernehmen?

    3. Eine der besten Sozialreportagen, die ich seit vielen Jahren lesen durfte.

  3. @Sisko: dann komm mal nach Frankreich….dagegen ist das Luxus!

    hoffentlich geht’s Dir besser, schon heftig, die Zustände bei Euch! Ein ZA für eine Stadt, wow, waren die anderen auf Cocktailparties?…

  4. Mhhmmm, was für ein Erlebnis. Und das noch zu nachtschlafener Zeit.
    Ich bin mit gutem Zahnmaterial gesegnet und muss nur zu normalen Dienstzeiten zur Kontrolle. *auf holz klopf*
    Das mit dem Röllchen hätte ich dir auch geraten – so quasi als Druckverband.

    Ein Notarzt für ganz Wien ist schon der Hammer. Das war mir gar nicht bewusst, dass wir mit Notdiensten so unterversorgt sind.
    Was das österreichische Gesundheitssystem anbelangt ist uns hinlänglich mittlerweile bekannt, dass die Kassen mehr ausgeben, als sie einnehmen. Es geht den Deutschen nicht viel besser, dagegen leben wir wie im Paradies, was hier noch an Leistung durch Krankenkassen bezahlt wird. Ich denke, auch wenn ein Wiener Zahnarzt Dienst schieben möchte, wird ihm die Kasse seinen Dienst nicht zahlen. Gibt es eigentlich Privatärzte die Notdienste machen?

    Ich kann mich erinnern, in meiner Kindheit war es ein Drama in der Nacht Zahnschmerzen zu bekommen. Da musste man zu den „Barmherzigen Brüdern“=Krankenhaus fahren und die haben generell nur Zähne gerissen und keine Wurzelbehandlungen oder dergleichen durchgeführt. Das war erst arg!

    Für deine tollen Titanbeißerchen bist du aber sicherlich Privatpatientin, denn das zahlt die Kasse nicht. Das ist nämlich was mich aufregt, warum Privatärzte, die Länge mal Breite einkassieren für den Notfall nicht erreichbar sind. Da solltest du dir vielleicht eine Notfallnummer von deinem Arzt holen.

    Hoffentlich hat sich der blutende Krater wieder beruhigt.

  5. Sehr spannende Reportage – ich bin gerade wie „angewurzelt“ dagesessen. Abgesehen davon war mir bisher nicht klar, dass es in ganz Wien nur einen zahnärztlichen Nachtdienst gibt. Wie das wohl hier in Salzburg ist?

    Ich hoffe, dass im Mund wieder alles so ist wie es sein sollte. Trotzdem zur Sicherheit noch „Gute Besserung“!

  6. Bitte lassen’S uns doch nicht so hängen: Ich habe immer noch die Luft angehalten vor Schreck und lasse sie erst wieder raus, wenn eine kurze Besserungsmeldung auftaucht.

    Ich habe hier zwar in 200 Meter Entfernung die Zahnklinik, äh Verzeihung, die „Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie“, glaube aber nicht, dass es dort einen Notdienst gibt. Werde gleich mal sehr gründlich recherchieren, wie es damit in München bestellt ist. Um die Information hoffentlich nie zu brauchen.

  7. danke, liebe leserinnen & leser! aber machen’s ihnen keine sorgen um mich, mir geht’s gut! mir ging’s ja schon in der nacht gut (bis auf die eine fehlende mahlzeit…), schockiert hat mich weniger der blutverlust, als die zuständ‘ hier in wien. und dass das nicht mal in vorwahlzeiten ein thema ist. aber hauptsache wir sind die stadt mit der besten lebensqualität. tagsüber…

    die zahnklinik hier macht eh notdienst, an wochenend- und feiertagen von 8-13 uhr… (habe ich doch damals zu silvester schon gebraucht. und dort wäre ich auch diesen mittwoch hingegangen, wenn sie denn offen gehabt hätten.)

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